Neue Klasse, neue Rollen
Wie soziale Identität den Schulstart prägt – und wie Pädagog:innen darauf reagieren können

Soziale Identität: Eine theoretische Brille für den Schulalltag
Soziale Identität: Eine theoretische Brille für den Schulalltag
Die Theorie der sozialen Identität (Henri Tajfel, John Turner) zeigt auf, wie unser Selbstbild aus unseren Gruppenzugehörigkeiten entsteht. Wir definieren uns also stark darüber, welche sozialen Gruppen wir als Teil unserer Identität betrachten – etwa als Fußballspieler:in, als jemand „vom Gemeindebau“, als jemand mit Migrationshintergrund. Jede:r gehört gleichzeitig zu mehreren Gruppen, und genau dieses Geflecht an Zugehörigkeiten formt die soziale Identität.
Diese Zugehörigkeiten beeinflussen auch, wie andere uns sehen und behandeln – sei es bewusst oder unbewusst. Schon in den ersten Schultagen entstehen informelle Rollenzuweisungen, die den weiteren Verlauf des Schuljahres prägen, oft hartnäckiger als uns lieb ist. Schüler:innen erkennen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede schnell. Wer sieht „anders“ aus, wer verhält sich „anders“. Wer hat ein „peinliches“ Hobby oder einen teuren Kleidungsstil?
Diese Effekte haben Tajfel und Turner in ihren Minimalgruppenexperimenten aufgezeigt, in denen dargestellt werden, wie Menschen aufgrund kleinster Unterschiede verschiedene Gruppen bilden. In diesen Experimenten teilten sie Schüler:innen nach willkürlichen Kriterien ein (Klee-Gruppe oder Kandinsky-Gruppe). Obwohl keine echten Unterschiede zwischen den Gruppen bestanden, begünstigten die Jugendlichen bei einer Aufgabe spontan Mitglieder der eigenen Gruppe gegenüber der anderen. Diese Tendenz zur ingroup bias (Eigengruppen-Bevorzugung) zeigt, wie stark schon gedachte Gruppenzugehörigkeiten unser Verhalten beeinflussen können. Für den Schulalltag bedeutet das: Kinder und Jugendliche nehmen wahr, wer z.B. wer dieselbe Kleidung trägt, wer dieselbe Emoji-Sprache nutzt oder wer mit bestimmten Lehrpersonen gut auskommt– und diese Kategorien beeinflussen ihr Miteinander.
Wichtig ist, dass Gruppenzugehörigkeiten nicht per se negativ sind. Sie stiften Identität und Gemeinschaftsgefühl. So kann es für eine Schülerin mit Fluchterfahrung positiv sein, wenn sie sich mit anderen in ähnlicher Lage austauschen kann. Gleichzeitig bergen Gruppenlabels auch Risiken: Werden sie mit Wertungen verknüpft (z.B. „die Sportlichen“ vs. „die Schwachen“), entstehen leicht Hierarchien, Vorurteile und Spannungen zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe. Lehrkräfte sollten daher von Anfang an ein wachsames Auge darauf haben, welche informellen Gruppen und Rollen sich in der Klasse formieren. Indem man frühzeitig ein Verständnis dafür entwickelt, kann man gegensteuern, falls sich ausgrenzende Tendenzen zeigen, und gezielt Maßnahmen ergreifen, um den Klassenzusammenhalt über Gruppen hinweg zu stärken.
Soziale Rollen als Entwicklungsraum
Soziale Rollen als Entwicklungsraum
Problematisch wird es, wenn die zugeschriebenen Rollen („der Klassenclown, die Streberin“) zu engen Schubladen werden. Denn dann fühlen sich Kinder und Jugendliche in Erwartungen gepresst, die ihre persönliche Entwicklung begrenzen können. Hier sind stille Zuschreibungen besonders tückisch: Oft werden Schüler:innen gar nicht offen etikettiert, aber implizit wissen alle, wer z.B. als „leistungsschwach“ gilt oder wer „immer stört“. Solche Zuschreibungen können sich verselbstständigen und zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden.
Daher sollte die Schule ein Ort sein, der solche Rollenzuschreibungen immer wieder aufbricht. Praktisch bedeutet das: Räume schaffen, in denen Schüler:innen sich neu erfahren können. Wechselnde Gruppeneinteilungen, Projekte und Wahlfächer ermöglichen es, aus festen Mustern auszubrechen. Wichtig ist auch, Erfolg vielfältig zu definieren: Nicht nur akademische Leistungen, sondern auch soziale, künstlerische oder handwerkliche Fähigkeiten verdienen Anerkennung.
Heutige Schulklassen sind meist heterogen zusammengesetzt. Unterschiedliche kulturelle Hintergründe, Sprachen und Lebensrealitäten treffen aufeinander. 19,3 % der Schüler:innen hatten 2022/23 in Österreich eine ausländische Staatsangehörigkeit, 27 % eine nicht-deutsche Umgangssprache (Wien: 39,9 % und 51,6 %). (Quelle: Österreichischer Integrations Fonds). Diese Vielfalt ist einerseits eine Bereicherung, stellt andererseits aber die Herausforderung, Zusammengehörigkeit über Unterschiede hinweg aktiv zu fördern. Jede:r Schüler:in sollte das Gefühl haben, dazuzugehören – unabhängig von Herkunft, Aussehen, Leistungsniveau oder anderen Merkmalen. Die Sozialpsychologie betont, wie wichtig die Bedürfnisse nach Selbstwert (“Ich bin gut genug”) und nach Zugehörigkeit (“Ich gehöre dazu”) sind. Wenn ein:e Schüler:in glaubt: „Die anderen denken, ich passe nicht hierher“, dann wird ihr/sein Selbstwertgefühl untergraben. Um solche dysfunktionalen Überzeugungen zu durchbrechen, hilft es, Schüler:innen zur Reflexion über die eigenen Stärken und vielfältigen Identitäten anzuregen. Indem Kinder und Jugendliche erkennen, was sie alles sind (vielleicht Sportler und Game Geek und …), gewinnen sie ein positiveres Selbstbild. So wird die soziale Identität nicht zur Schublade, sondern zum Spielraum, in dem junge Menschen sich entfalten und entwickeln können.
Praktische Impulse für eine starke Klassenidentität
Die ersten Wochen in einer neuen Klasse sind eine besondere Phase – vieles ist noch offen, vieles entsteht gerade erst. Wir möchten Lehrpersonen ermutigen, diesen Moment bewusst zu nutzen: Mit kleinen Impulsen lässt sich ein gutes Miteinander von Anfang an fördern.
• Gemeinsame Werte und Regeln definieren: Gleich zu Schuljahresbeginn sollten grundlegende Klassenregeln und Werte im Dialog mit den Schüler:innen erarbeitet werden. Wenn alle mitbestimmen können, welche Umgangsformen gelten, steigt die Identifikation mit der Klasse. Ein gemeinsam erstelltes „Klassen-Credo“ oder Plakat mit den vereinbarten Werten kann im Klassenzimmer aufgehängt werden.
• Beziehungen aktiv gestalten – statt sich „entwickeln zu lassen“: Für das erste Kennenlernen helfen aktive Kennenlernspiele. In den ersten Tagen bieten sich Übungen an, in denen Schüler:innen einander persönlich kennenlernen und Gemeinsamkeiten entdecken – etwa ein Bingo, bei dem alle jemanden finden müssen, der das gleiche Hobby oder Lieblingsessen hat. Wichtig ist, dabei auch auf Unterschiede einzugehen und zu vermitteln: In dieser Klasse sind verschiedene Hintergründe und Interessen normal. Werden früh Gemeinsamkeiten betont und Unterschiede respektiert, entsteht Empathie und ein erstes Wir-Gefühl.
• Vielfalt als Ressource nutzen: Unterschiede in Sprache, Herkunft oder Alltagserfahrungen sollten im Klassenzimmer offen angesprochen werden – nicht idealisiert, sondern als Teil der Realität. Eine einfache Übung: Die Klasse sammelt auf einem Plakat oder digital, was jede:r mitbringt – Sprachen, Hobbys, besondere Erfahrungen. So wird deutlich: Vielfalt ist da, sie wird gesehen – und sie betrifft uns alle.
• Wechselnde Gruppen und Rollen: Gruppenprozesse verfestigen sich schnell – oft zum Nachteil Einzelner. Wer früh gegensteuert, fördert Offenheit: Sitzordnungen, Partnerarbeiten oder Projektteams regelmäßig durchmischen – so lernen Schüler:innen, mit vielen anderen zu kooperieren. Dabei hilft es, bewusst Rollen rotieren zu lassen: Mal übernimmt ein:e Zurückhaltende:r die Moderation, mal die „laute Stimme“ die Strukturarbeit. Das öffnet Spielräume und stärkt das soziale Lernen.
• Gemeinsame Erlebnisse und Rituale schaffen: Nichts verbindet mehr als geteilte Erfahrungen. Planen Sie früh Aktivitäten, bei denen alle als Klasse gemeinsam etwas erleben: ein Klassenprojekt, ein kleiner Ausflug oder eine Team-Challenge im Unterricht. Ein gemeinsames Ziel – wie die Gestaltung des Klassenraums – stärkt das Gefühl: „Wir schaffen das zusammen.“ Auch einfache Rituale wirken verbindend: ein gemeinsamer Start in den Tag, ein Klassenmotto oder ein Song. Solche Wiederholungen geben Struktur, stärken Identität (auch zwischen Lehrkräften und Schüler:innen) – und machen den Unterschied zwischen „eine Klasse haben“ und „eine Klasse sein“.
• Fremde Lebenswelten kennenlernen: Um Empathie und Perspektivwechsel zu fördern, hilft es, in andere Rollen zu schlüpfen. Geben Sie den Schüler:innen kurze Biografien ganz unterschiedlicher Menschen an die Hand – etwa mit verschiedenen Herkünften, Interessen oder Herausforderungen. In der Ich-Form berichten sie dann in Kleingruppen: „Ich heiße Sara, bin 13 und bin mit zwei Sprachen aufgewachsen…“ Im Anschluss tauscht sich die Klasse darüber aus: Wie fühlt es sich an, zu einer bestimmten Gruppe zu gehören – oder eben nicht dazuzugehören? Welche Rollen wurden der Figur vielleicht zugeschrieben – und warum?
• Reflexion über die eigene Identität anregen: Wer sich nur als „der Schüchterne“ oder „die Sportliche“ erlebt, bekommt schnell eine enge Rolle zugeschrieben. Übungen zur Selbstwahrnehmung öffnen neue Perspektiven: Lassen Sie die Schüler:innen z.B. eine „Ich bin…“-Liste schreiben (z.B. großer Bruder, Wienerin, Hobby-Coderin, Tierfreund). Beim Vorstellen wird sichtbar: Jeder Mensch hat viele Seiten. So entsteht mehr Verständnis füreinander – und weniger Reduktion auf Äußerlichkeiten oder Vorurteile.